Eine Untersuchung der Teiltonspektren bei Kulning- und Lockruftechniken
anhand von Beispielen aus Schweden und Finnland
Magdalena Tellenbach Uttman
[1] Einleitung
In wahrscheinlich allen gebirgigen und unwegsamen Regionen der Welt gibt es verschiedene Lockrufe und Techniken, um mit Rufen weite Distanzen, z.B. Täler, akustisch zu überbrücken. Einige Arten sind musikalisch sehr entwickelt und werden auch in anderen Zusammenhängen gebraucht, z.B. in der Volksmusik.
In Schweden und Norwegen wurden die Kühe traditionell im Sommer auf die Alm oder in den Wald gebracht, wo sie den ganzen Sommer über grasten. Junge Frauen weideten sie dort und mit dem Weiden sind Lockrufe und Gesänge eng verbunden. In dieser Art von Gelände war es manchmal notwendig, über große Distanzen gehört zu werden, und dafür verwendete man die spezielle Ruftechnik des Kulnings.
Der Klang des Kulnings unterscheidet sich vom Gesang, obwohl es nicht nur ein Ruf ist, sondern aus reich verzierten, improvisierten Melodien besteht. Dieser Artikel konzentriert sich auf eine Klang-Untersuchung und prüft, wie hoch die Teiltöne in einigen schwedischen Kulningar und Volksliedern und in einigen finnischen Lockrufen reichen. Diese Untersuchung wurde im Jahre 1998 für eine Diplomarbeit in Musikwissenschaft (Tellenbach 1999) zur Erlangung des Magistergrades an der Universität Wien gemacht. Damals (für die Diplomarbeit) wurde nach Lockrufen und Kulning in den nordischen Ländern gesucht, nach Ähnlichkeiten und Unterschieden. Sowohl in Norwegen, Schweden als auch Finnland waren die landschaftlichen und viehwirtschaftlichen Voraussetzungen zum Teil ähnlich – man brauchte Lockrufe, die weit trugen. Für diese Untersuchung konnte in Finnland jedoch keine Kulning-Technik gefunden werden, wie sie in Norwegen und Schweden ausgeübt wird bzw. wurde. Einige alte Archivaufnahmen weisen darauf hin, dass es Kulning möglicherweise in den schwedischen Teilen Finnlands gegeben hat, es gibt aber keine Möglichkeit, eine Klanguntersuchung zu machen (Tellenbach 1999:120, 124f.). Die Kuh-Lockrufe die hier analysiert werden, bei einem Wettbewerb in Finnland aufgenommen, zeigen sich unterschiedlich vom Kulning.
Die Ergebnisse sind auch in Systematische Musikwissenschaft VI/4 1998 (herausgegeben 1999 bei ASCO Art & Science, Bratislava) publiziert worden.
[2] Lockrufe und Kulning
So wie es üblich war, Arbeitswerkzeuge und Geräte schön zu schmücken und Handarbeiten zu machen, so wurden auch Lockrufe und Gesänge beim Weiden musikalisch geschmückt. Im Unterschied zu Frauen in Südeuropa, die in der Viehwirtschaft eine untergeordnete Rolle spielen, waren es in den skandinavischen Ländern seit dem Mittelalter überwiegend Frauen, die die Tiere pflegten. Damit wurde auch die Ruftechnik des Kulnings hauptsächlich von Frauen ausgeübt.
Lockrufe und Kulning waren Kommunikationsmittel für Mitteilungen zwischen Menschen, von Menschen zu Nutztieren und zu Raubtieren.
Es ist einfacher, mit einer singenden Stimme gehört zu werden und auch schonender für die Stimmbänder, nicht zu schreien. Um einen Ton weit tragen zu lassen, sind höhere Frequenzen nötig als beim Reden. Singend können auch längere, zusammenhängende Mitteilungen gemacht werden, beim Sprechen atmet man jede fünfte Sekunde (Sundberg 1997:54), beim Singen ist es nicht ungewöhnlich, seltener als jede zehnte Sekunde zu atmen.
Es gibt keine Definition für Kulning (auch z.B. Kölning, Kaukning), aber meist ist damit eine vokale Technik gemeint, die mit einer sehr kräftigen Stimme in einer hohen Stimmlage ausgeführt wird, einen sehr spitzen Klang ergibt, sehr weit trägt, meist von Frauen praktiziert wird und traditionell als Arbeitswerkzeug auf der Alm oder in revitalisierten Formen vorkommt.
Wie andere „musikalische Arbeitswerkzeuge” kommt auch Kulning heutzutage in der Volksmusik vor. Gerade das Kulning hat in den letzten Jahren eine interessante Revitalisierung erfahren und ist auch in die Kunstmusik und Pop- und Rockmusik eingeflossen. Dazu kommt ein hohes Interesse, Kulning bei Kursen zu lernen, nicht notwendigerweise um die Technik musikalisch zu verwenden, sondern um für sich und den Körper Stärke und Kraft zu holen (Tellenbach 1999).
In Finnland kommt eine andere Art der Revitalisierung von Kuh-Lockrufen vor: Seit 1997 wird im Sommer in Lapinlahti in der Provinz Savo ein Wettbewerb im Kuhlocken gehalten. Hier geht es nicht nur um Musikalität, sondern u.a. auch um Lautstärke und Humor (Tellenbach 1999:128). Für die Untersuchung dieses Artikels wurde eine Tonaufnahme des Wettbewerbes aus dem Jahre 1998 verwendet.
[3] Klang und Ruftechnik
Wie das Kulning viele Musiker verschiedener Genres fasziniert hat, so haben sich auch Wissenschaftler für verschiedene Aspekte der vokalen Technik interessiert, vom Ursprung bis hin zum Klang. Diese vokale Technik soll, nach Nils Wallin, von einem Vorfahren des Homo sapiens sapiens stammen, dessen zerebrale Organisation und Anatomie der supralaryngalen Tracht sich von dem modernen Menschen unterschieden hat. Nils Wallin vertritt die Ansicht, dass sich Kulning aus Arbeits- und Befehlsrufen entwickelt habe (Wallin 1991:389). Björn Merker hat Kulning mit dem Paargesang der Gibbonaffen verglichen (Törnberg, SDS 23.01.1997).
Anna Johnson führte für ihre Arbeit Sången i skogen eine physiologische Untersuchung durch, was mit den Stimmorganen bei Kulning passiert. Ihre Ergebnisse zeigen, dass der Kehlkopf gehoben, die Kieferöffnung erweitert, die Lippenöffnung vergrößert wird, die Mundwinkel werden retrahiert, das Zungenbein wird nach oben gegen das Kieferbein gezogen, die Epiglottisspitze wird zum hinteren Teil der Zunge gehoben, die Form der Zunge wird verändert, so dass die Zungenwurzel und der hintere Teil des Zungenkörpers gehoben werden, wenn die Zungenspitze gesenkt wird. Das Ansatzrohr wird durch diese Veränderungen bei den verschiedenen Artikulatoren gekürzt und im unteren Teil des Ansatzrohres eingeengt (Johnson 1986:252).
Die Kieferöffnung zu vergrößern, kann dazu führen, die Lautstärke zu erhöhen und bei dem Kulning geht es ja meistens darum, laut zu rufen. Mit einer vergrößerten Kieferöffnung kann der erste Formant (Resonanz im Ansatzrohr) erhöht werden, und wenn er nahe an die Phonationsfrequenz kommt, wirkt er verstärkend auf den Grundton (Johnson 1986:240). Die Erhöhung des Kehlkopfes hängt mit der Erhöhung der Frequenz zusammen. Bei einer Versuchsperson war z.B. die Erhöhung beim Gesang zwischen 11 und 23 mm und bei dem Kulning zwischen 13 und 39 mm (Johnson 1986:236).
Mehrere Wissenschaftler und andere Autoren haben Kulning als einen Falsett-Gesang beschrieben, z.B. Jan Ling als eine Art Rufgesang im Falsett (1978:22), aber eigentlich ist unklar, in welches Register Kulning gehört. Erstens sind die Registerbegriffe nicht ganz geklärt, und zweitens weiß man nicht genau, was bei dem Kulning mit den Stimmlippen passiert. Johan Sundberg schreibt, „dass unser Verständnis der muskulären Steuerung des Kehlkopfes, um es moderat auszudrücken, noch recht unvollständig ist” (Sundberg 1997:83).
Nach Johan Sundberg besagt eine allgemein verbreitete (aber nicht allgemein akzeptierte) Definition von dem Begriff Register, „dass ein Register ein Phonationsfrequenzbereich ist, in dem alle Töne so wahrgenommen werden, als seien sie auf ähnliche Weise entstanden und besäßen ein ähnliches Timbre” (Sundberg 1997:74). Bei Männern unterscheidet man oft zwischen einem Modalregister (normal) und einem Falsettregister (und „Strohbaßregister”) und bei Frauen gibt es die Brust-, Mittel- und Kopfregister. Ich finde es nicht besonders geschickt, Kulning als einen Falsett-Gesang zu beschreiben, da Kulning zum größten Teil von Frauen vorgeführt wird und auch, weil man sich Falsett als einen Klang mit starkem Grundton vorstellt. Bei Kulning gibt es zwar einen starken Grundton, aber viele andere Teiltöne, die auch stark sind. Das Teiltonspektrum reicht weit hinauf, wie ich später zeigen werde. Eigentlich sollte das Kulning eher in das Kopfregister hineingenommen werden, aber das erscheint ebenfalls nicht richtig, da sich diese vokale Technik doch vom „normalen” Gesang stark unterscheidet.
Das Kulning soll traditionell weit tragen können, und die Lautstärke des Schalls wird durch den subglottischen Druck der Luftüberdruck in der Lunge bestimmt. Anna Johnson et al. haben gezeigt, dass Kulning einen außergewöhnlichen hohen subglottischen Druck benötigt (Johnson et al. 1985:192).
[4] Die Untersuchung
Nach Johan Sundberg benötigt man mindestens drei Parameter, um die Klangfarbe des Primärschalls (wenn die Stimmlippen durch den Luftstrom von der Lunge in Schwingungen kommen und ein Schall entsteht) zu beschreiben: Grundfrequenz, Amplitude und Spektrum (Sundberg 1997:73). Die Klangfarbe wird auch stark vom Ansatzrohr bestimmt. In diesem Aufsatz werden Spektren untersucht. (Für ein Studie über Grundfrequenzen derselben schwedischen Beispiele, siehe Tellenbach 1999. Die Lautstärke zu messen, wäre nur mit besseren Aufnahmemöglichkeiten für die finnischen Lockrufe möglich gewesen.)
Von den ganzen Liedern sind Spektren von repräsentativen Einzeltönen ausgewählt worden, um die Teiltonspektren deutlicher zu zeigen. Besonders bei den Haltetönen kann man ein gutes Bild vom Spektrum erhalten. Bei allen untersuchten Tönen wurde an mehreren Messpunkten das Einzelspektrum angeschaut, von denen hier ein Mittelwert dokumentiert ist. Wenn derselbe Ton in einem Lied verschiedenartige Einzelspektren aufweist, wird das natürlich angegeben. Die Y-Achse bei den Einzelspektrogrammen repräsentiert den Schallpegel, der in dB angegeben wird.
Die Beispiele in dieser Untersuchung stammen aus zwei verschiedenen Zusammenhängen: Die Frauen, die auf einer CD Kulningar und Volkslieder vorführen, sind anerkannte, etablierte Sängerinnen in Schweden; die Teilnehmende des Wettbewerbes im Kuhlocken üben solche Rufe bei ihrer Arbeit aus, oder haben eine Idee, wie früher solche Rufe geklungen haben. Beim Wettbewerb stammten die meisten Teilnehmer aus der näheren Umgebung – Savo – es gab aber auch solche, die aus anderen Regionen kamen.
Die hier analysierten Kulning-Beispiele wurden der CD entnommen, weil dieselben Sängerinnen auf dieser auch Volkslieder sangen. Dies ermöglichte einen Vergleich zwischen den unterschiedlichen Gesangstechniken. In Finnland waren keine Tonbeispiele von Kuhlocken vorhanden, weshalb für die Untersuchung der Wettbewerb aufgenommen wurde, damals [1998] die einzige Möglichkeit eine Klanguntersuchung mit finnischen Beispielen zu unternehmen.
Die Teiltonspektren wurden mit Hilfe des Computerprogramms EmapSon (Dr Emil Lubej, Musikwissenschaft, Universität Wien) untersucht.
[5] Vier Kulerinnen
Für die Untersuchung der Teiltonfrequenzen wurden Kulning-Aufnahmen von vier Sängerinnen verwendet, die auf der CD Visfolk och Tralltokar (1987/1991) erschienen, also moderne Aufnahmen sind. Von derselben CD sind vier Volkslieder dieser Sängerinnen ausgewählt worden, die mit den Kulningar verglichen wurden. Die Volkslieder werden in einer viel tieferen Tonlage gesungen, aber trotzdem ist es interessant, die verschiedenen vokalen Techniken derselben Personen zu vergleichen. In den Kulningar werden die Vokale nicht viel geändert. Bei den Volksliedern spielen die Vokale natürlich eine große Rolle für das Bild der Spektrogramme.
Obwohl ganz individuell und frei, ist der grobe Aufbau eines Kulnings durch lange Haltetöne, besonders am Phrasenende, und dazwischen schnellen Tönen und Verzierungen gekennzeichnet. Sie haben hier einen Tonumfang von einer Oktave. Der Text ist beim Kulning nicht besonders wichtig. Die Vokale „i” und „u” (in der schwedischen Sprache fast ein „ü”) tragen gut in der hohen Stimmlage und werden fleißig verwendet, oft in Kombination mit Konsonanten wie „t” und „d”.
1. In dem Kulning von Lena Willemark, Kulning efter Sväs Märta, strecken sich die Teiltonspektren ziemlich weit in die Höhe, auch in Bereichen, die für Kulning nicht besonders hoch sind. Z.B. reicht bei einem c#2 das Spektrum bis ca. 14 kHz. Bei einem g#2 ist ein Spektrum bis ca. 9 kHz kontinuierlich, d.h. keine Teiltöne fehlen, macht dann einen Sprung, und einzelne Teiltöne treten sporadisch bis um 17–18 kHz auf. Bei anderen Tönen in der gleichen Tonhöhe sind die Spektren bis 17–18 kHz kontinuierlich. Auf allen Tonhöhen kommen ab und zu kleine Sprünge vor.
Lena Willemark c#2 | Lena Willemark g#2 |
[FŸr bessere Auflšsung, klicken Sie bitte auf die Figuren.]
In höheren Tonlagen zeigen sich die Spektren kontinuierlich bis 17–18 kHz.
Lena Willemark d3 | Lena Willemark a#2 |
Bei einigen Tönen in Lena Willemarks Kulning ist der dritte bis fünfte Teilton lauter als der Grundton, und bei dem Volkslied ist manchmal der zweite bis sechste Teilton lauter als der Grundton, was sich auf die Vokale zurückführen lässt.
In dem Volkslied Långt bort i skogen strecken sich auch die Spektren weit in die Höhe. Sprünge, bei denen Teiltöne fehlen, kommen bei 5–7 kHz vor, aber die Teiltonserie kann dann sporadisch bis 9–12 kHz weitergehen.
Lena Willemark f1 |
2. Im Kulning von Maria Röjås, Locklåt från Härjedalen, hört bei c#3 die Teiltonserie um 12 kHz ziemlich abrupt auf. Bei f#3 fehlt einen Teilton bei ca. 6 kHz. Nach diesem Sprung sind Teiltöne wieder bis um 10 kHz vorhanden. Bei tieferen Tönen hören die Teiltonspektren auch ziemlich abrupt, mit einem g#2 bei 10–11 kHz oder einem f2 bei 6 kHz auf.
Maria Röjås c#3 |
In dem Volkslied das Maria Röjås singt, En gång när jag bliver gift, ist ein Spektrum bei b1 bis 5 kHz kontinuierlich, dann treten Teiltöne bis um 10–11 kHz nur mehr sporadisch auf. Die Spektren anderer Töne sind über alle diese Frequenzen kontinuierlich. In anderen Tonhöhen sind die Spektren ähnlich, oder die Teiltöne hören überhaupt bei 5–6 kHz auf.
Maria Röjås e1 |
3. Bei Agneta Stolpes Damm Karis Locklåt (Kulning) zeigen die Einzelspektren bei g#2 ein kontinuierliches und deutliches Spektrum bis zu 10 kHz. Dort wird es von einem kleinen Sprung abgebrochen und geht dann weiter bis zu ca. 14 kHz, sogar bis zu ca. 16 kHz, dann aber nicht mehr so deutlich. Dieser Ton hat auch Varianten ohne Sprung und daher ein kontinuierliches Spektrum bis zu ca. 14 kHz.
Agneta Stolpe g#2 |
Auch bei tieferen Tönen, wie c#2 und d#2 macht das Spektrum einen Sprung bei 6–7 kHz und ist dann wieder kontinuierlich bis zu 11–13 kHz.
Bei dem Volkslied Ro, ro långt bortom sjön sieht das Spektrum ganz anders aus. Bei einem f#1, auf dem Vokal „u” sind nur die drei ersten Teiltöne deutlich, bis zu 1 kHz, aber direkt danach wird zum Vokal „o” gewechselt, und dabei gibt es ein kontinuierliches Teiltonspektrum bis zu 4 kHz.
Agneta Stolpe f#1 „u” | Agneta Stolpe f#1, „o” |
Bei anderen Stellen sind kontinuierliche Teiltonspektren bis zu 6 kHz zu finden und bei einigen gehen sie nach einer Unterbrechung sporadisch weiter bis ca. 10–11 kHz.
4. Bei dem Kulning von Kerstin Sonnbäck, Jag har tappat bort ett djur, gibt es kontinuierliche Teiltonspektren bis zu 10–11 kHz im Bereich f#2 und g#2 und 15–16 kHz im Bereich c#3 und d#3.
Kerstin Sonnbäck d#3 |
In dem Volkslied Lycklig den flicka som får en spelman sind die Teiltonspektren bis zu 9 kHz kontinuierlich, die meisten sind jedoch nicht so deutlich, sie enthalten Sprünge im Spektrum und sind nur bis um 6 kHz kontinuierlich.
Kerstin Sonnbäck c#2 | Kerstin Sonnbäck c#2 |
Die Untersuchung der Teiltonspektren beim Kulning zeigt, dass sie sich von „normalem” Gesang, wie bei einem Volkslied, unterscheiden. Lena Willemarks Kulning weist Spektren mit Teiltönen bis zu 18 kHz auf und ihr Gesang im Volkslied Teiltöne bis ca. 12 kHz. Die Teiltonspektren bei Maria Röjås Kulning reichen nicht so hoch wie die von Lena Willemark. Bei Maria Röjås hören die Teiltöne schon bei 12 kHz auf, und das von ihr gesungene Volkslied zeigt fast dasselbe Ergebnis. Agneta Stolpes Teiltöne reichen bei dem Kulning bis höchstens 16 kHz, meistens aber bis 11–13 kHz, und bei dem Volkslied bis 6 kHz, mit Unterbrechung bis 10–11 kHz. Bei Kerstin Sonnbäck sehen die Einzelspektren ähnlich aus. Ihre Teiltöne bei Kulning reichen bis zu 16 kHz und bei dem Volkslied bis 6 kHz, und manchmal sogar bis 9 kHz.
Alle Kulningar weisen Sprünge im Spektrum der einzelnen Töne auf, sowohl bei verschiedenen Frequenzen, als auch bei Haltetönen, die sonst Spektren ohne Sprünge aufweisen.
Lena Willemarks Kulning-Spektren gehen weiter in die Höhe, als die der anderen Kulerinnen. Vielleicht würden die Teiltonspektren der anderen in einem anderen Zusammenhang höher reichen. Für die Schallaufnahme war es wohl nicht wichtig, dass das Kulning weit trägt.
Nur bei Maria Röjås erreichen die Teiltöne fast gleiche Frequenzen, sowohl beim Kulning als auch beim Volkslied. Sonst sind die Unterschiede zwischen dem Gesang beim Kulning und beim Volkslied ziemlich groß.
Sennerei in Mittelschweden
© Magdalena Tellenbach Uttman
[6] Lockrufe beim Wettbewerb in Lapinlahti
Die im Folgenden beschriebenen Lockrufe wurden beim Wettbewerb im Kuhlocken im Jahre 1998 in Lapinlahti, Mittelfinnland, aufgenommen (DAT). Drei Frauen und ein Mann wurden hier von den Beteiligten ausgewählt. Die finnischen Lockrufe sind keine Kulningar, sie sind eine Mischung aus Rufen mit Lockworten und -Silben, die sich innerhalb einer Oktave bewegen, und Parlandophrasen und lange Haltetöne einschliessen. Diese Lockrufe werden von großen Intervallsprüngen charakterisiert. Bei diesen finnischen Kuh-Lockrufen ist die Verwendung von einer Lippentechnik beim Rufen sehr üblich, die sowohl mit den Oberlippen als auch mit den Unterlippen ausgeführt wird. Die Lippen schliessen Luft im Mundraum ein. Dann geben sie der Luft nach, schlagen gegen einander und es erklingt ein „phui”. Der dadurch erzielte Effekt könnte sein, dass der erklingende Ton sehr deutlich wird, im Unterschied zur Tonbildung nach anderen Konsonanten.
1. Die harmonischen Spektren der Lockrufe des ersten Beispieles (eine Frau) reichen recht hoch. Sie scherzt mit den Tieren und ahmt Tierlaute nach. Die Rufe wechseln zwischen ca. a1 und a2. Der Halteton liegt meistens ein oder zwei Halbtöne unter dem oberen Rufton. Bei den Haltetönen reichen die Spektren bis zu 10–12 kHz, bei den Rufen in hoher Lage bis 8–9 kHz und bei den tiefen Ruftönen bis ca. 5 kHz. Aber auch bei den tiefen Tönen kommt es vor, dass das Spektrum weiter hinaufgeht, bis zu 9 kHz, oder einen Sprung zwischen 4–6 kHz macht und dann bis zu 12 kHz weitergeht. Es kommt auch bei den hohen Ruftönen vor, dass die Teiltöne erst um 15 kHz aufhören.
Beispiel 1 a#1 |
Beispiel 1 a#2 |
2. Die zweite Frau verwendet die beschriebene Lippentechnik und kommt damit bei hohen Rufen auf ein Spektrum, das bis zu 16 kHz reicht. Die Haltetöne, die einen Ganzton unter den Ruftönen liegen, enthalten Spektren, die nicht ganz so weit, mit 9–10 kHz oder mit einem Sprung ab 4 kHz und dann nur einer sporadischen Teiltonserie bis 9–10 kHz reichen.
Beispiel 2 g#2 | Beispiel 2 f#2 |
Viele Rufe in der hohen Tonlage reichen nur bis zu 7–8 kHz und in der tieferen Tonlage bis 6 kHz, möglicherweise treten noch sporadisch Teiltöne nach einem Sprung im Spektrum auf.
3. Die dritte Frau, die diesen Wettbewerb in 1998 gewonnen hat, macht lange Aufzähl-Phrasen, deren Silben auf den Tonhöhen gleiten. Ihre Haltetöne sind nicht ganz gleichmäßig. Es ist jedoch kein Vibrato, sondern wird zum Teil wahrscheinlich vom Gehen verursacht.
Die Ruftöne haben Spektren, die bis 10 kHz reichen. Die Haltetöne weisen ziemlich verschiedene Spektren auf, bei einem Halteton reichen die Teiltöne über 18 kHz, jedoch mit kleinen Störungen im höheren Bereich. Sonst bleiben die Haltetöne in Frequenzbereichen bis 6–9 kHz. Auch tiefere Töne, wie c#2, weisen
Beispiel 3 a2 | Beispiel 3 g2 |
Spektren auf, die sich bis 10 kHz kontinuierlich zeigen und dann nur mehr sporadisch bis ca. 18 kHz reichen. Viele Spektren von den Lockrufen des dritten Beispiels sind ziemlich undeutlich, da die Frau beim Rufen viel Text unterbringt.
Beispiel 3 c#2 |
4. Der einzige Mann in dieser Untersuchung, das vierte Beispiel, lockt ein bisschen anders als die Frauen. Er ruft auch mit der speziellen Lippentechnik, aber geht z.B. ins Falsett, und seine Tonintervalle sind anders. Die von ihm verwendeten Tonsprünge reichen zwar über eine Oktave, anstatt aber ein oder zwei Halbtöne vom obersten Ton hinunterzugehen, macht er einen Intervallsprung von einer kleinen Terz. Er ruft mit Wörtern auf dem Terzintervall a1-f1, wo die Teiltonserie kontinuierlich bis 4–7 kHz, und dann sporadisch bis 7–11 kHz reicht. Seine Lockrufe enthalten viele Töne mit nicht besonders kontinuierlichen Teiltonspektren, sie enthalten aber auch Töne mit Spektren, die sich bis um 9 kHz kontinuierlich zeigen.
In seinem ersten Ruf sind die Intervalle anders als in den folgenden Rufe. Auf eine hoch angesetzte Quart a1-d2 schlägt er ins Falsett um (direkt nach dem Umschlag mehr wie eine Quint). Das Spektrum ist gerade nach dem Umschlag von einem sehr kräftigen Grundton geprägt. Ob es ein einmaliges Ereignis war oder ob es eine verbreitete Ruftechnik ist, lässt sich nach dem zur Verfügung stehenden Material nur schwer beurteilen.
Beispiel 4 c2 |
Der Mann verliert ein bisschen an Tonhöhe, aber ruft verhältnismäßig hoch. Die oberen Ruf- und Haltetöne bewegen sich zwischen f2 und d2. Die Teiltonspektren sind nur ausnahmsweise kontinuierlich bis um 7 kHz.
Beispiel 4 f1 |
Beispiel 4 f2 |
Die Untersuchung der finnischen Lockrufe zeigt kontinuierliche Teiltonspektren, die bis 15–16 kHz und sogar bis 18 kHz reichen, darüber hinaus aber nicht mehr so deutlich sind. Die untersuchten Rufe dieses Mannes haben sporadische Spektren bis ca. 11 kHz, er ruft aber auch im Falsett. Er ruft nicht sehr viel tiefer als die Frauen, nur ca. eine Terz.
Wettbewerb in Lapinlahti
© Magdalena Tellenbach Uttman
[7] Abschließend
Das Ergebnis der Untersuchung der Teiltonspektren von vier Kulningar, verglichen mit den Teiltonspektren von Volksliedern bzw. mit finnischen Lockrufen:
Höchste Teiltonsfrequenz (Hz) bei einem kontinuierlichen Spektrum
|
Nach Walter Graf ist die günstigste Übertragungsfrequenz bei einer Entfernung von 1 km ungefähr 2 000 Hz und wird niedriger, wenn der Abstand größer wird. So ist z.B. die günstigste Übertragungsfrequenz für 5 km 1 240 Hz, für 50 km 638 Hz und für 100 km 580 Hz (Graf 1965:203). Die hier untersuchten Kulningar und finnischen Lockrufe zeigen alle deutliche Formanten in Bereichen unterhalb von 2 000 Hz. Formanten bei den Kulningar sind auch bei höheren Frequenzen zu finden, wo sie aber für die Tragweite keine große Bedeutung haben.
Auch andere Aspekte sind für die Tragbarkeit der Rufe wichtig, z.B. klingt und trägt Kulning gut, wenn die Luft feucht ist, nach einem Regen oder an einem See.
Obwohl die finnischen Lockrufe ein ähnlich breites Spektrum wie die Kulningar aufweisen, meine ich, dass die beiden vokalen Techniken nicht dieselben sind. Die Finnen rufen auf dunkleren Vokalen. Sie haben ein dunkleres „u” als die Schweden und rufen auch gern mit einem „o”. Durch ihre Lippentechnik ist der Mund ziemlich geschlossen, im Unterschied zu dem Kulning, für das ein weit offenen Mund ganz wesentlich ist.
Der Tonvorrat der finnischen Lockrufe unterscheidet sich insofern von den schwedischen Kulningar, als dass die finnischen Lockrufe durchschnittlich eine Quart oder Quint tiefer liegen (Tellenbach 1999). Trotzdem bewegen sich die kontinuierlichen Teiltonspektren bei beiden vokalen Techniken in denselben Frequenzhöhen.
Da die finnischen Lockrufe durchgehend mit einer Oktave Abstand zwischen Haltetönen und Parlandophrasen pendeln, könnte man wahrscheinlich von einem Registerwechsel sprechen. Dieser Wechsel ist aber an sich nicht der Effekt wie z.B. beim Jodeln. Wegen der Registerwechsel beim Jodeln sind dort große Intervallsprünge häufig, z.B. Quarten, Quinten und Sexten, aber auch die kleine Septim.
[8] Zusammenfassung
In dieser Arbeit wurde untersucht, wie hoch die Teiltöne in einigen schwedischen Kulningar und Volksliedern und bei einigen finnischen Lockrufen reichen. Die Unterschiede im Teiltonspektrum zwischen Kulning und Volkslied erwiesen sich als recht groß. Bei drei von den vier untersuchten Kulerinnen reichten die Teiltöne bei Kulning bis zu 16–18 kHz, obwohl sie sich auch niedriger hielten. Bei den Volksliedern hörten die Teiltonspektren bei ca. 6 kHz auf, in Ausnahmefällen bei 9–12 kHz. Nur bei einer Kulerin zeigten die Teiltonspektren von sowohl Kulning als auch Volkslied fast dasselbe Ergebnis. Die untersuchten Aufnahmen waren einer CD entnommen, für welche die Kulningar nicht im ursprünglichen Sinne aufgenommen worden waren. Es war dabei z.B. sicher nicht wichtig, dass das Kulning weit trägt, was vielleicht ein Spektrum mit weiter reichenden Teiltönen ergeben hätte.
Die finnischen Lockrufe, die untersucht wurden, zeigten ein kontinuierliches Teiltonspektrum bis 15–16 kHz und sogar bis 18 kHz. Unter den vier Finnen war auch ein Mann, und seine Spektren reichten sporadisch bis ca. 11 kHz. Seine Rufe waren nicht sehr viel tiefer als die der Frauen, nur ca. eine Terz, wobei sein Rufen auch ins Falsett übergeschlagen ist.
Ich meine, dass obwohl diese finnischen Lockrufe und die Kulningar ähnliche Spektren aufweisen, die beiden vokalen Techniken nicht dieselben sind. Die Finnen rufen auf dunkleren Vokalen, und verwenden eine besondere Lippentechnik, wobei die Lippen den Mund ziemlich geschlossen halten.
Aber obwohl sich die finnischen Lockrufe in den Bereichen einer Quart oder Quint unterhalb der schwedischen Kulningar bewegen, erreichen die Teiltonspektren bei beiden vokalen Techniken ungefähr dieselben Höhen.
Literatur
GRAF, Walter 1965 (1980): Naturwissenschaftliche Gedanken über das Jodeln. (Die phonetische Bedeutung der Jodelsilben). In: FÖDERMAYR, Franz (Hg.): Walter Graf. Vergleichende Musikwissenschaft. Ausgewählte Aufsätze. Series Musicologica 3. Wien-Föhrenau. S. 202–210.
JOHNSON, Anna 1986: Sången i skogen: Studier kring den svenska fäbodmusiken. Dissertation. Institutionen för musikvetenskap, Uppsala universitet.
JOHNSON, Anna et al.1978: Fäbodmusik i förvandling. Rapport från en exkursion sommaren 1977. Särtryck ur Svensk Tidskrift för Musikforskning. Vol. 60:2/1978. Meddelanden från Svenskt Visarkiv 42. Stockholm.
LING, Jan 1978/1964 : Svensk folkmusik: Bondens musik i helg och söcken. Stockholm: Bokförlaget Prisma.
SUNDBERG, Johan 1997: Die Wissenschaft von der Singstimme. Bonn: Orpheus-Verlag GmbH. Verlag für systematische Musikwissenschaft GmbH.
TELLENBACH, Magdalena 1999: Lockrufe in Skandinavien. Funktion – Klang – Revival. Diplomarbeit zur Erlangung des Magistergrades der Philosophie eingereicht an der Geisteswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien.
TÖRNBERG, Ulf 1997: Musikens kraft en gåta. Sjungande gibbonapan kan ge en ledtråd. Sydsvenska Dagbladet (SDS). Malmö. 23.01.1997.
WALLIN, Nils L. 1991: Biomusicology: Neurophysiological, Neuropsychological, and Evolutionary Perspectives on the Origins and Purposes of Music. Stuyvesant, NY: Pendragon Press.
Tonaufnahmen
Magdalena Tellenbach: Karjankutsun 02.08.1998, Väisälänmäki Hügel, Lapinlahti, Finnland (Wettbewerb in Kuhlocken) (DAT).
CD Visfolk och Tralltokar. 1991 (1987) Amigo Musik AMCD 719.